Bulimie: Experten-Interview

Essstörungen wie Magersucht und Bulimie sind eine psychosomatische Reaktion auf schwierige Lebenssituationen. Jutta Kolletzki ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin im Beratungs- und Therapiezentrum Balance in Frankfurt und seit 20 Jahren auf dem Gebiet tätig. FNP-Volontär Daniel Waldschik hat sie zum Thema befragt.

Frau Kolletzki, wie viele Menschen leiden unter einer Essstörung?

JUTTA KOLLETZKI: Laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts zeigen etwa ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland zwischen elf und 17 Jahren Anzeichen einer Essstörung. Bei den 17-Jährigen klafft die Geschlechterschere dann auseinander: Bei Mädchen liegt der Anteil erwartungsgemäß höher. Von ihnen ist fast jede Dritte betroffen. Bei den Jungen ist es jeder achte. Wegen dieses Unterschieds gelten Essstörungen noch immer als weibliche Erkrankung.

Und in der Region um Frankfurt?

KOLLETZKI: Essstörungen wie Magersucht und Bulimie sind für die Region nicht zahlenmäßig dokumentiert. Wir müssen von einer hohen Dunkelziffer ausgehen. Es sind aber allein einige hundert Betroffene, die sich jährlich bei uns melden und vorstellen.

Viele Ursachen können eine Essstörung auslösen. Welche können Sie häufiger beobachten?

KOLLETZKI: Eine Essstörung ist immer ein Notsignal der Seele. Es gibt einzelne Ereignisse, die sie auslösen können, etwa der Tod eines Angehörigen. In der Regel sind aber mehrere Ursachen verantwortlich. Dazu gehören unter anderem ein Mangel an Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, ein verzerrtes Körperbild oder auch Verlustängste. Eine entscheidende Phase ist die Pubertät: Die Trennung von der Kindheit steht an und eine neue Rollen- und Körperorientierung beginnt. Wenn ein Kind dann etwas labiler ist, überträgt es die Ängste, die eine Identitätssuche mit sich bringen kann, durch ein sehr kontrolliertes Essen auf den Körper.

Wie lange dauert eine Therapie in der Regel. Gibt es da Erfahrungswerte?

KOLLETZKI: Wenn eine Person mehrere Jahre eine Essstörung hatte, sind in der Regel zwei bis drei Jahre Therapie notwendig, um eine normale Ernährungs- und Lebensqualität gepaart mit einem entsprechenden Selbst- und Körperbewusstsein wiederzuerlangen – und wieder gut im Leben zu stehen. Je eher Erkrankte therapeutische Hilfe annehmen, umso besser sind die Heilungschancen.

Viele Betroffene zählen andere Essgestörte zu ihren Freunden oder teilen ihre Geschichten im Internet mit . Wie bewerten Sie das?

KOLLETZKI: Das muss man differenziert betrachten. Zum einen ermöglicht es das Internet, dass Betroffene nicht nur schnell Hilfsangebote finden, sondern auch andere, mit denen sie sich austauschen. Das nimmt ihnen ein Stück Einsamkeit und Isolation, die die Krankheit mit sich bringt. Auf der anderen Seite bergen Internetforen die Gefahr, dass sich viele nur oberflächlich oder scheinbar mit ihrer Krankheit auseinandersetzen. Für sie ist die Essstörung so etwas wie die letzte Freundin, die sie nicht loslassen wollen.

Wenn sich ein Betroffener bei Ihnen meldet: Wie gehen Sie vor?

KOLLETZKI: Der Einstieg erfolgt zunächst über ein persönliches Beratungsgespräch. Dabei schauen wir, wie sich das Problem darstellt und welche kurzfristigen oder weiterführenden Therapieangebote möglich und sinnvoll sind. Für viele, die zu uns kommen, ist es übrigens der erste Versuch, ihre Krankheit mit einer Therapie zu bekämpfen.

Viele Krankenkassen weigern sich, Erstberatungen und Therapiekosten einer Essstörung zu tragen. Oder stellen sich lange quer. Warum ist das so?

KOLLETZKI: Die Krankenkassen argumentieren, dass es Krankenhäuser für die Akutversorgung und niedergelassene Kassenpsychotherapeuten gibt – die allerdings oft lange Wartezeiten haben oder teilweise wenig Erfahrung mit essgestörten Patienten. Für Jugendliche treffen Kassen aber inzwischen häufiger Einzelfallregelungen für eine Kostenübernahme in unserer Facheinrichtung.

Sie hingegen sind auf Essstörungen spezialisiert …

KOLLETZKI: Richtig. Wir haben bei uns ein Angebot, das die Krisenintervention und ein integratives Versorgungsangebot mit Einzel- und Gruppengesprächen umfasst. Das wird von den Betroffenen geschätzt. Weil sie wissen, ihnen sitzt jemand gegenüber, der sich mit dem Thema auskennt und nicht entsetzt ist, wenn sie ihre Krankheits- und Leidensgeschichte ausbreiten.

Mein Eindruck ist, dass essgestörte Menschen in unserer Gesellschaft zu herablassend betrachtet werden. Ihrer auch?

KOLLETZKI: Das kann man so sagen, ja. Viele Menschen verstehen die Situation nicht, in der sich Essgestörte befinden. Oder können das nicht nachvollziehen. Aber auch, weil Essgestörte recht anstrengend sein können, wenn sie etwa mit allen Mitteln ihre Krankheit verteidigen. Aber da steckt ein Leid dahinter, dessen sich Außenstehende meist nicht bewusst sind. Häme und Belustigung sind hier absolut nicht angemessen. Wichtig ist es, zu signalisieren: Tu etwas – es gibt Hilfe bei deinem Problem.

(Daniel Waldschik in FNP, 19.03.2014)

 
 

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Bis dahin, Euer Daniel Waldschik