Bulimie: Jedes Kilo zählt

Essstörungen sind kein reines Frauenproblem. Auch Männer erkranken an Bulimie oder Magersucht. Nur geben die es aus Angst und Scham seltener zu. Ein junger Mann hat sich nun ein Herz gefasst und spricht offen über seine Krankheit – auch, weil er andere Betroffene ermuntern will, sich Hilfe zu holen.

Soziale Kontakte aufzubauen und zu pflegen, ist für ihn schwierig, Selbstwertgefühl hat er nur wenig, seine Versagensangst ist riesengroß: Seine Essstörung hat Marco L. (23) aus Frankfurt verändert. Zwar ist sein Gesundheitszustand stabil und er hat seine Krankheit weitgehend im Griff. Aber noch lässt sie den angehenden Krankenpfleger nicht ganz aus ihren Fängen. „Bestimmte Lebenssituationen und Ereignisse werfen mich noch immer aus der Bahn.“ Allerdings weiß er mittlerweile, richtig darauf zu reagieren.

Das war nicht immer so. Fünf Jahre lang litt Marco an einer speziellen Form von Bulimie. Kennzeichen der psychosomatischen Krankheit, also wenn die Psyche den Körper als Sprachrohr nutzt, sind für gewöhnlich Heißhungerattacken, die mehrfach am Tag einsetzen können. Nach der meist übermäßigen Kalorienzufuhr steigt bei den Betroffenen das Empfinden, dick und hässlich zu sein. Dieses Gefühl – und die Nahrung – versuchen sie schließlich durch Erbrechen wieder loszuwerden.

Marco hingegen verzichtete auf diese Toilettengänge, Sport-Bulimie nennt man seine Variante der Krankheit. Er streifte sich mehrere Pullover über, zog zwei Jogginghosen an und schnürte seine Laufschuhe. „Ich wollte schwitzen. Um jeden Preis Kalorien verbrennen“, sagt er. Das ging so weit, dass er sich dafür sogar krankschreiben ließ. „Oder auf der Arbeit die schwersten Arbeiten an mich riss, um genug Kalorien zu verbrennen.“ Weil er zu oft auf der Arbeit und in der Berufschule fehlte, wurden seine Noten schlechter. Weil er seinem Körper keine Ruhepause gönnte, fehlte ihm irgendwann die Motivation, arbeiten zu gehen. Seine Ausbildung zum Veranstaltungstechniker schmiss er deshalb vor einigen Jahren hin.

Immer mehr abgeschottet

„Früher war ich dick“, sagt Marco. Mit vier Jahren schon habe er viel mehr gewogen als die anderen Kinder. „Das hat sich durch mein ganzes Leben gezogen.“ 1,65 Meter groß und 85 Kilogramm schwer: Aus medizinischer Sicht galt Marco als fettleibig. Ständig rückte ihm seine Mutter deswegen mit einer neuen Diät auf den Pelz. Sogar mit kleinen Geschenken wollte sie ihm das Abnehmen schmackhaft machen. Marco ließ sich darauf nicht ein. Mehr noch: Der in der Schule beliebte Junge schottete sich immer mehr von seinen Freunden ab und zog sich zurück. „Ich war depressiv und fühlte mich unwohl in meiner Haut.“ Aus Frust stopfte er alles in sich rein, was er zu essen fand. „Schokolade, Chips, Pizza, alles.“

Vom einen Tag auf den nächsten krempelte er sein Leben um. „Warum, weiß ich nicht. Es hat einfach klick gemacht.“ Da war Marco 18 Jahre alt. Galt früher die Regel: „Ich esse, was ich will, wann ich will“, kontrollierte er sich fortan streng. „Ein Brötchen morgens und am Abend ein Löffel Reis. Ich fiel vom einen Extrem ins andere.“ Marco machte Schluss mit dem Frustfressen und fing an, exzessiv Sport zu treiben. Jeden Tag Ausdauersport. Anfangs fünf Kilometer Joggen oder Radfahren. Dann immer weiter. Und schneller. Parallel dazu aß er immer weniger. „Ich nahm in kurzer Zeit mehr als 25 Kilo ab.“

Dünn und voller Selbstvertrauen

Marco hatte etwas gefunden, in dem er gut war: das Abnehmen. „Ich war zum ersten Mal stolz auf mich.“ Endlich dünn und voller Selbstvertrauen, landete er dann auch bei den Frauen. Seine erste Freundin allerdings zog ihn tiefer in die Krankheit. „Sie war selbst bulimisch und bestärkte mich in meinem Ess- und Sportwahn.“ Sich seine Essstörung eingestehen wollte und konnte er nicht. „Ich bin ein Mann, sagte ich mir. Nur Frauen haben Essstörungen.“ Heute weiß er, wie falsch er mit diesem Gedanken lag.Nach einem halben Jahr trennte sich das Paar. Erst danach konnte sich Marco die Krankheit bewusstmachen. Heute weiß er: „Anders kannst du nicht gesund werden.“ Bald darauf begab er sich in die Hände eines Facharztes. Weil der nicht helfen konnte, schrieb Marco die Klinik am Korso in Bad Oyenhausen an – eine auf Essstörungen spezialisierte Fachklinik. Bis er dort im März 2012 zu einer elfwöchigen Behandlung einziehen konnte, „musste ich mich erst einmal mit der Krankenkasse herumärgern“. Den Einweisungsantrag mit der Kostenübernahme lehnte sie ab. Erneute Schreiben des Hausarztes und eines Psychologen blieben auch beim zweiten Versuch ungehört. „Irgendwann wollte mich die Krankenkasse in eine andere Klinik überweisen“, sagt Marco. Billiger und näher an seinem Wohnort. Aber Marco wollte unbedingt in die Spezialklinik – und machte der Krankenkasse weiter Druck. Irgendwann mit Erfolg.

Ärger mit der Krankenkasse

Viele, die er in der Klinik am Korso kennengelernt hat, zahlten den teuren Aufenthalt aus der eigenen Tasche. „Manche Sachbearbeiter erkennen den Ernst der Lage nicht, in der sich Essgestörte befinden“, kritisiert er. „Oder klammern sich zu sehr an Gesetze und Vorschriften.“ An seine Zeit in der Fachklinik erinnert sich der angehende Krankenpfleger gerne zurück. „Wir wurden Schritt für Schritt mental wieder aufgebaut.“ Die vielen Gruppengespräche mit anderen Betroffenen halfen ihm ebenso wie die Therapiesitzungen, in denen er eine neue Beziehung zu seinem Körper und Aussehen aufbauen konnte. „Es ist ein langer Weg, der immer noch nicht zu Ende ist.“ Denn auch heute noch, gesteht Marco, übernimmt die Essstörung immer mal wieder die Kontrolle über ihn. Seit Mitte 2013 befindet er sich deswegen erneut in therapeutischer Behandlung. „Aber auch wenn ich einen Rückfall habe: Ich weiß jetzt, damit umzugehen.“

Sport macht er übrigens nach wie vor. Jedoch nicht mehr in dem übertriebenen Maß wie früher. „Ob ich jemals wieder ganz gesund werde, weiß ich nicht. In meinem Körper fühle ich mich immer noch nicht hundertprozentig wohl.“

(Daniel Waldschik in FNP, 19.03.2014)

 
 

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