„Ich wollte geliebt werden!“

Essgestörte Frauen und Mädchen bekommen Hilfe in Wiesbaden:

Nina (Name geändert) ist eine attraktive junge Frau. Sie ist intelligent, humorvoll, hat für jeden ein nettes Lächeln übrig. Ihre zierlich-schlanke Figur, ihre blonden langen Haare und ihr verführerischer Augenaufschlag lassen vermuten, die 31-jährige Wiesbadenerin arbeite als gefragtes Fotomodel. Sie scheint rundum zufrieden und glücklich zu sein. Ist sie aber nicht. Sie selbst hat ein völlig verzerrtes Bild von sich, findet sich „schrecklich und einfach nur zum Wegrennen“. Nina hat eine Essstörung. Sie leidet an Ess-Brechsucht, den meisten als Bulimie bekannt.

Charakteristisch für die psychosomatische Krankheit sind Heißhungerattacken, die oft mehrfach am Tag auftreten können. Mit der massiven Kalorienaufnahme steigt bei den Erkrankten dann rasch das Gefühl auf, sie seien „fett und hässlich“. In ihrer Verzweiflung sehen sie als Gegenmaßnahme nur noch den Gang zur Toilette, um das Essen durch Erbrechen wieder los zu werden. Das Tückische an der Krankheit, von der in der Regel Mädchen und Frauen zwischen 15 und 35 Jahren betroffen sind, ist die vielschichtige Bandbreite krankheitsauslösender Faktoren. Deren Wurzeln, erklärt Doris Weipert, die im „Forum für Ess-Störungen“ in Sonnenberg täglich Mädchen und Frauen beim Kampf gegen Bulimie, Magersucht und Co. unterstützt, liegen oft in der Überforderung mit den Veränderungen eigener Lebenssituationen.

„Alle nörgelten herum“

Bei Nina hat es während der Pubertät angefangen. Mit 16 Jahren, erinnert sie sich, „habe ich mir zum ersten Mal den Finger in den Hals gesteckt“. Einer der Negativhöhepunkte sei gewesen, dass ihre Mutter sie damals der Länge und Breite nach abgemessen hatte und die Maße allen sichtbar an den Kühlschrank hängte. Nicht den „Traummaßen 90-60-90“ zu entsprechen, soll zumindest bei ihr nicht der Krankheitsauslöser gewesen sein. „Ich wollte doch nur geliebt werden, aber alle nörgelten an mir rum. Letztlich war es die Summe aller Umstände“, sagt sie und zählt damit zu einer Vielzahl von Mädchen und Frauen, die in jungen Jahren eine Essstörung als Sprachrohr entwickeln, um wahrgenommen zu werden.

Ob sich Nina irgendwann von der Bulimie befreien kann, wird an ihrem Willen und ihrer Therapiebereitschaft liegen, sagt Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin Weipert. „Oftmals wissen die Patienten zwar, dass sie etwas ändern müssen. Die Krankheit aufgeben, das wollen einige dann aber doch nicht“, nennt sie mit dem sogenannten Ambivalenzproblem ein mögliches Hindernis, das Therapiefortschritte mindern kann.

Kosten übernimmt in der Regel die Kasse

Ungefähr die Hälfte ihrer Patienten komme direkt aus der Landeshauptstadt und der näheren Umgebung, berichtet sie über die regionale Situation. Wie viele essgestörte Personen in und um Wiesbaden leben, sei wegen der Dunkelziffer aber nur schwer einzuschätzen. Was sie weiß: „Eine Heilung ist immer möglich.“ Das von ihr und ihren Kolleginnen entwickelte mehrdimensionale Behandlungskonzept zeige dabei sowohl heilungsfördernde also auch Therapie verkürzende Wirkungen. Die Kosten für die psychotherapeutische Behandlung übernimmt in der Regel die Krankenkasse.

„Um den ersten Schritt gehen zu können, ist es wichtig, eine Therapie als nichts Schlechtes zu begreifen. Man muss sich dafür nicht schämen“, will Doris Weipert allen Mut machen, die sich noch nicht getraut haben, sich zu offenbaren. Einen guten Rat gibt sie allen Verwandten und Freunden von Personen, die sie für essgestört oder gefährdet halten könnten: „Immer zuerst die Betroffenen selbst auf die Befürchtung ansprechen. Niemals tuscheln, sie abwerten oder ihnen in den Rücken fallen, indem man zuerst mit anderen spricht.“

In der ohnehin angespannten psychischen Verfassung, in der sich eine essgestörte Person befinden kann, könne dieser Vertrauensbruch fatale Folgen haben. Die Betroffenen benötigen genau das Gegenteil: Jeden noch so fähigen Mitstreiter, der ihnen im Kampf gegen die Essstörung mit Zuspruch, Zuneigung und Verständnis den Rücken stärkt.

Anlaufstellen und Informationen für Betroffene:


Lesen Sie hier, was andere Frauen und Mädchen berichten

„Sabrina“ (24) wurde im Alter von 13 Jahren  von ihrer besten Freundin vor die Wahl gestellt: Entweder „in“ sein und so die Freundschaft erhalten, oder weiterhin in einem Kinderzimmer wohnen und (alleine!) mit Puppen spielen. „Ihr war es peinlich, mich mit ihren anderen Freunden bei mir zu Hause besuchen zu kommen“, erinnert sich Sabrina und erzählt von ihrem sehr kindlich eingerichteten Zimmer. Um ihre beste Freundin nicht zu verlieren habe sie schließlich die komplette Einrichtung entsorgt, was einen radikalen Einschnitt in ihr junges Leben bedeutet habe.

Ihre kindliche Persönlichkeit, so Sabrina, sei für sie damals eine wichtige Basis gewesen. So habe sie auch den hormonellen Entwicklungs- und Veränderungsprozess ihres Körpers während der Pubertät, den sie für sich als parallelen Krankheitsverursacher ausgemacht hat, schlichtweg nicht gewollt. „Als ich zum ersten Mal meine Periode bekam wollte ich laut herausschreien: Stopp! Ich bin noch nicht soweit, eine Frau zu werden. Ich will nicht, dass mein Körper sich verändert“, erläutert sie die psychischen Konflikte, die sie zunehmend überforderten. Was sie aber sein wollte war klar: Keine Außenseiterin. Sie wollte „dazu gehören und in irgendetwas gut sein“, wofür sie Anerkennung bekommen könnte. Diese Bewunderung bekam sie. Immer dann, wenn es darum ging, wie „schön schlank“ sie sei. Sowohl das Hungern als auch das Erbrechen gaben ihr dabei nicht nur ein Gefühl von Macht über sich selbst („Worüber kann man in diesem jungen Alter denn sonst schon Macht ausüben, wenn nicht über seinen eigenen Körper?“), sondern auch darüber, andere auf sich aufmerksam zu machen.

Ihre Krankheit fiel irgendwann einer Lehrerin auf, die umgehend das Gesundheitsamt verständigte. Doch anstatt sich für eine ernsthafte Heilungschance zu entscheiden, zwang sich Sabrina in die Rolle der urplötzlich Wiedergenesenen: Um einer Therapie zu entgehen habe sie in kürzester Zeit mehrere Kilogramm zugenommen, wofür sie sich schließlich mehr hasste als je zuvor. In der Folge wurde das übliche „Nach dem Essen über das Klo beugen, Finger rein und los“ mehr und mehr durch Abführmittel unterstützt. Selbst als sie im Alter von 23 Jahren schwanger wurde, konnte sie der Essstörung ihrer eigenen Aussage nach nicht nachgeben. „Mittlerweile liegt mein Körpergewicht bei etwa 40 Kilogramm. Und das bei einer Körpergröße von 1,63 Meter. Ein Ende meiner Krankheit ist derzeit noch nicht in Sichtweite“, skizziert die mittlerweile 24-Jährige die traurige Bilanz ihrer Bulimie, die nach wie vor ihr Leben bestimmt.

Der Sucht endlich die Stirn bieten

Dieses Szenario will „Carina“ (17) nicht erleben und begab sich kürzlich in professionelle Hilfe. In der „Klinik am Korso“ in Bad Oeynhausen will sie sich der Ess-Brech-Sucht stellen. Die Spezialklinik, die als europaweit einzige gilt, in der ausschließlich Essstörungen behandelt werden, scheint dafür der richtige Ort. Das sieht auch Carinas Mutter so, die als treibende Kraft den Entschluss zur Therapie in Gang setzte.

Das Bedauerliche in Carinas Fall: Sie habe nie die Absicht gehabt, einem Schönheitsideal hinterher zu eifern. Sie gibt zwar zu, schon immer auf ihre Ernährung geachtet zu haben, das typische „penible Kalorien zählen“, dass in Bezug auf Essstörungen als eines der Frühwarnzeichen genannt wird, sei es aber nicht gewesen. „Ich hatte eines Tages einfach nur zu viel gegessen und fühlte mich extrem unwohl in meinem Körper. In dem Gedanken, es bei einer einmaligen Sache zu belassen, habe ich mich dann absichtlich übergeben“, schildert Carina ihr erstes Mal über der Toilettenschüssel. „Ich bin immer schon gerne dünn gewesen. Allerdings auch nicht zu dünn. So wie bei anderen bulimisch Kranken war die Höhe meines Körpergewichts nie mein Problem“, gesteht sie und erweckt den Anschein, nur versehentlich in diesen Teufelskreis hineingerutscht zu sein.

(Daniel Waldschik, Wiesbadener Kurier vom 10.April 2012)

 

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