Nervenkitzel am Fallschirm

Der Sprung aus einem Flugzeug in 4000 Metern Höhe ist Nervenkitzel pur.   Foto: Pullout

Der Sprung aus einem Flugzeug in 4000 Metern Höhe ist Nervenkitzel pur.    Foto: Pullout

Achterbahnfahren, Hai-Tauchen oder Bungee-Jumping: Manche Menschen lieben den Nervenkitzel. Auch ich gehöre zu ihnen. In Gießen-Lützellinden habe ich deshalb einen Fallschirmsprung aus 4000 Metern Höhe gewagt.

Nervenkitzel in Gießen. Ich knie, falte meine Hände vor meiner Brust, meinen Kopf neige ich leicht in den Nacken – meine Pose gleicht einem betenden Engel, der um Gottes Segen fleht. Genau so fühlt es sich auch für mich an. Hier oben, in 4000 Metern Höhe, wenige Augenblicke vor dem freien Fall, bei dem man nur mit einem Gurt an einem anderen Menschen verhakt ist, wird selbst der größte Atheist zum Gläubigen – der nur eines hofft: dass sich der Fallschirm öffnet.

Chris Gorges (35) nimmt mir meine Angst. Er ist Tandemmaster bei der Firma Pullout Skydive, die mich auf den Flugplatz nach Gießen-Lützellinden eingeladen hat. Chris ist erfahren, hat rund 3300 Sprünge hinter sich. „Es gab noch keine Situation, die ich nicht kontrollieren konnte“, sagt er mit ruhiger Stimme. Schnell fasse ich Vertrauen zu dem Mann, dem ich für eine knappe halbe Stunde mein Leben in die Hände lege.

Dennoch: Während Chris mir und zwei weiteren Tandemspringern auf einer weißen Plastikplane die richtige Haltung für den freien Fall und eine weiche Landung demonstriert, frage ich mich immer wieder: „Was machst du hier eigentlich?“ Großspurig habe ich mich angekündigt. Einmal berichten, wie sich das anfühlt, so ein Fallschirmsprung. Erzählen, was einem durch den Kopf geht, wenn man in vier Kilometern Höhe nur auf ein Stück Stoff, ein paar Steuerseile und die Karabiner am Gurtsystem angewiesen ist. Was ich gedacht habe, während ich mit meinen Beinen über dem Abgrund baumelte? Ich weiß es nicht mehr.

Ich erinnere mich an das Lächeln der anderen sieben Springer in der kleinen Propellermaschine, mit dem sie mir zusprechen und so meine Anspannung nehmen wollten. Ich erinnere mich, wie meine Hände immer schwitziger wurden, je näher wir uns dem Ausstieg näherten. Und ich erinnere mich an meine letzten Sätze, bevor wir gesprungen sind: „Bin ich gesichert? Bin ich wirklich gesichert?“

Ich bin es! Denn: Fallschirmspringen gehört zu einem der sichersten Sportarten überhaupt. Zur wichtigsten Ausrüstung zählen der Haupt- und der Reservefallschirm, Gurtzeug und der Öffnungsautomat. Dieses elektronische Überwachungssystem misst permanent den Luftdruck. Je näher der Springer dem Boden kommt, desto höher der Luftdruck. Ist der Springer nicht in der Lage, seinen Schirm mit der Hand zu öffnen – wenn er zum Beispiel ohnmächtig geworden ist – „sprengt“ dieser Mechanismus ab einer bestimmten Höhe den Reserveschirm frei.

Chris klopft mir auf die Schulter. „Exit“, ruft einer der Männer, und öffnet die Tür. Es geht los. Einer nach dem anderen springt aus dem Flugzeug. Dann sind Chris und ich an der Reihe. Wir rutschen von dem kleinen Bänkchen rüber zum Ausgang. Ich wage einen kurzen Blick nach unten. Was dann passiert, ist unbeschreiblich. Wie ein betender Engel hänge ich vor Chris. Meine Augen habe ich geschlossen. Ich fühle, wie sich mein Körper nach vorne neigt. Ich spüre, wie sich der Wind gegen mein Gesicht presst. Mit geschätzt 200 Kilometern pro Stunde schießen wir durch die Luft zu Boden – und das Adrenalin durch meinen Körper.

Rund 50 Sekunden lang schreie ich mir die Anspannung aus dem Leib, die sich während des 20-minütigen Fluges aufgestaut hatte. Bis Chris mit seiner rechten Hand einen Countdown runterzählt. Drei, zwei, eins: Er öffnet in 1500 Metern Höhe den Hauptschirm. Ein heftiger Ruck zieht uns nach oben. Stille. Durchatmen. Den Blick über Wetzlar genießen. In der Ferne ist die Frankfurter Skyline schemenhaft zu erkennen.

„Nimm mal die Schlaufe“, fordert mich Chris auf. „Ich will aber nicht“, sage ich und kralle mich mit beiden Händen am Brustgurt fest. „Ich will erstmal nur hängen und mich an die Höhe gewöhnen.“ Obwohl ich extreme Höhenangst habe, gelingt mir das schnell. Chris drückt mir die gelben Lenkseile in die Hände. Ein leichter Zug nach links, ein leichter Zug nach rechts: „Ich steuere einen Fallschirm“, schreie ich in den Himmel und lenke uns durch den Wind. „Und wenn man ganz doll an einer Seite zieht . . .“, sagt Chris. „. . . machen wir eine Spirale“, jubele ich und gebe mich der Bewegung des Fallschirms hin. Dass ich so gelassen bin, verwundert mich. Dennoch geht mir die Angst, dass doch etwas passieren könnte, bis zur Landung nicht aus dem Kopf.

Schon seit dem frühen Morgen, seit der Fahrt von Wiesbaden zum Flugplatz in Gießen-Lützellinden, kreisen meine Gedanken nur um das eine: „Was ist, wenn was schiefgeht? Was ist, wenn . . .“ Ein roter Blitz holt mich in die Realität zurück. Der Tacho zeigt etwas unter 90. Erlaubt waren 70. Ich zucke mit den Achseln. „Vielleicht komme ich ja um den Strafzettel drumrum“, denke ich. Komme ich nicht!

(Daniel Waldschik, FNP vom 26. August 2014)

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