Die Tauben vom Bolzplatz

Beim Gehörlosen-Fussballverein GSV Wiesbaden kommt es aufs Hören  nicht an. Dort verstehen sich die Spieler nahezu blind.

WIESBADEN. Der Himmel über Wiesbadens Stadtteil Dotzheim ist wolkenbedeckt. Es ist kurz nach 18 Uhr, gerade hat es aufgehört zu regnen. Eigentlich sind nun die Erwachsenen mit dem Training dran, doch noch tummeln sich die Bambinis auf dem Kunstrasenplatz der Polizeiakademie Hessen. „Lucas, kommst du“, hallt der Ruf einer Mutter über den gesamten Platz. „Schieß her“, fordert ein Junge im Bayern-München-Outfit, der seinen Elfmeter knapp am linken Pfosten vorbeigesetzt hat, den Mann am Spielfeldrand auf. „Spiel ab!“, „Deck’ den Kevin!“ – überall wird gesprochen, werden Anweisungen gegeben. Ohne Worte wäre vermutlich Chaos auf dem Platz angesagt.

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Die erwachsenen Spieler kommen. Ein paar Runden zum Warmlaufen, dann geht’s auf den glitschigen Kunstrasen. Im Kreis kicken sie sich den Ball zu, sprechen kein Wort. Stattdessen, so sieht es für Außenstehende aus, gestikulieren sie wie wild mit den Händen und bewegen ihren Mund dazu – Gebärdensprache. Kein wahlloses Rumgefuchtel also, sondern eine komplexe Kombinationen aus Zeichensprache, Mimik und Mundbildern. Die letzten Kinder verlassen widerwillig den Platz. Thomas, Trainer der Fußballmannschaft des Gehörlosen Sportvereins Wiesbaden (GSV), lächelt einem der Jungs zu. Trotz seiner Schwerhörigkeit sagt er in klaren, aber leisen Tönen: „Trainingsende!“ Dann hält er dem Jungen die Hand zur „High Five“ hin. Dieser aber verweigert. Offenbar ist ihm der Kontakt mit dem Schwerhörigen unangenehm.

„Auch wenn es diskriminierend ist, uns als ‚nicht normal’ zu bezeichnen: irgendwie sind wir es. Und oft werden wir so behandelt“, sagt Ben, der die Fußballabteilung des GSV leitet. Ben ist ebenfalls schwerhörig, kann Lippenlesen, Gebärdensprache – und mit viel Konzentration noch etwas klarer als Thomas. Von einem Handicap ist nicht zu reden. „Wir werden in der Öffentlichkeit oft falsch wahrgenommen“, sagt Ben. Viele Hörende hätten bei Gehörlosen und Schwerhörigen das Bild des dummen Tauben im Kopf, der sich selbst nicht hören und dadurch seine Laute nicht kontrollieren könne – prompt folge der Stempel „geistig behindert“.

Knapp zwanzig Prozent der deutschen Bevölkerung ab 14 Jahren gelten als hörbeeinträchtigt – etwas mehr als 13 Millionen Menschen also, die leichtgradig bis an Taubheit grenzend schwerhörig sind. Rund 80.000 Gehörlose sind nach dem Schwerbehindertengesetz anerkannt. Ein großer Schritt aus dem sozialen Abseits für Menschen wie Ben und Thomas wurde mit dem Behindertengleichstellungsgesetz im Jahr 2002 gemacht, als die Gebärdensprache in Deutschland offiziell als Sprache anerkannt wurde. Trotzdem, berichtet Ben, blieben die Gehörlosen eher unter sich. Nicht nur, weil sie einfacher miteinander kommunizieren können. Es liege auch an den Hörenden. „Weil sie schnell die Geduld mit uns verlieren, wenn sie sich dauernd wiederholen oder immerfort langsam und deutlich sprechen müssen, weil ihnen jemand mit den Augen an den Lippen hängt.“

In einer Liga spielt das sechzehn Mann starke Team des GSV nicht. Es bleiben nur wenige Turniere, an denen sie ihr Talent am Ball zeigen können. Auf einen Erfolg sind die Jungs besonders stolz: Schon dreimal hintereinander haben sie das „Turnier der Herzen“ gewonnen, das seit dem Jahr 2008 in der hessischen Landeshauptstadt ausgetragen wird – ein lupenreiner Titel-Hattrick sozusagen.

Fast alle beim GSV sind gehörlos, schwerhörig oder tragen eine Hörprothese – das Cochleaimplantat. Allerdings gibt es auch ein hörendes Mitglied bei den Blau-Gelben. „Ansonsten nehmen Hörende kaum Kontakt zu uns auf“, bedauert Ben. Gegründet wurde der Verein, der derzeit etwa 50 Mitglieder zählt, vor 35 Jahren, am 7.7.1977 – ein normaler Donnerstag. Fast normal, denn der Tag ist nicht nur wegen seiner Schnapszahl irgendwie besonders. Es ist auch der Geburtstag eines großen, grauen, sprechenden Berges: zum ersten Mal trompetet sich Elefant Benjamin Blümchen in die Herzen seiner Zuhörer. Den Spielern, die noch immer mit sportlichem Eifer für die Pokalverteidigung im Juni trainieren, ist der dickhäutige Hörspiel-Held zwar bekannt. Sein berühmtes „Törööö!“ hat von ihnen allerdings noch keiner gehört.

Mittlerweile ist es fast 20 Uhr. Kurz vor Ende des lockeren Trainingsspielchens steht es unentschieden – 4:4. Den letzten Eckball bringt Florian von rechts. Thorsten nimmt die Kugel volley, kompromisslos, Vollspann – und drischt das runde Leder in den Dotzheimer Abendhimmel. Ralf klatscht sich mit der flachen Hand gegen den Kopf. Komplexe Gebärdensprache hin oder her: diese Geste versteht jeder.

Daniel Waldschik

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